Die Li-Yizhe-Gruppe
Regimekritische Wandzeitungen
Die Praxis, "Wandzeitungen" (dazibao 大字报 - "Zeitungen mit großen Schriftzeichen") zu verfassen, stammt aus der "Kulturrevolution". Mao selbst hatte sie als Methode revolutionärer Auseinandersetzung gepriesen. Oft dienten sie aber bloß revolutionärer Lobhudelei, gelegentlich wurden politische und persönliche Intrigen mit solchen Wandzeitungen ausgetragen. "Kritik" wird meist nur an ohnehin schon politisch verfemten Politikern geübt, in der Hochphase der "Kulturrevolution" vor allem an jenen, die von der Parteiführung um Mao als "Reaktionäre" oder "Machthaber auf dem kapitalistischen Weg" denunziert wurden wie zum Beispiel Deng Xiaoping oder Liu Shaoqi (und hunderttausende lokale Funktionäre).
Ähnlich wurde Ende 1973 die "Kritik an Lin Biao und Konfuzius" (Pi Lin pi Kong 批林批孔; Lin Biao war Maos entmachteter und bei einem Flugzeugabsturz 1971 umgekommener Stellvertreter) vor allem - auf Betreiben der Partei - auf Wandzeitungen geführt, im April 1976 wurde neuerlich Deng Xiaoping attackiert, nach der Wende im Oktober richtete sich eine von der neuen Führung betriebene Wandzeitungs-Kampagne gegen die gestürzte "Viererbande".
Doch unter die linientreuen Wandzeitungen mischte sich immer wieder auch politische Kritik an den herrschenden Zuständen, meist verklausuliert und in indirekten Anspielungen, doch viele Chinesen waren es gewohnt, in politischen Texten auch zwischen den Zeilen zu lesen.
Der bekannteste systemkritische Text aus der Zeit zum Ende der Mao-Ära ist das Manifest zu "Demokratie und Rechtssystem im Sozialismus" der südchinesischen Li-Yizhe-Gruppe (s. unten), doch es gab auch in anderen Provinzen Anfang der 1970er Jahre Proteste gegen das autokratische System, u.a. in Zhejiang und Jiangsu. In Nanking (Nanjing) zum Beispiel verfasste Xu Shuiliang (zusammen mit anderen) Wandzeitungen und Flugblätter gegen Chinas "bürokratische Elite" und das System von Kaderprivilegien. Xu wurde 1975 verhaftet und bis 1979 ohne Anklage festgehalten. Nach seiner Freilassung schloss er sich der Demokratiebewegung an. 1981 wurde er neuerlich verhaftet, 1998 durfte er schließlich in die USA ausreisen.
"Demokratie und Rechtssystem im Sozialismus"
"Demokratie und Rechtssystem im Sozialismus"
1974 verfasst eine Gruppe ehemaliger Rotgardisten in Kanton (Guangzhou, Südchina) ein landesweit zirkuliertes Manifest mit dem Titel "Demokratie und Rechtssystem im Sozialismus - gewidmet dem Vorsitzenden Mao und dem Vierten Volkskongress". Ausgehendend von marxistischen Prinzipien und Lehrsätzen Maos werden darin nicht nur die Exzesse der "Kulturrevolution" und die hohlen Rituale des Mao-Kultes aufs Korn genommen, sondern auch Grundzüge einer "revolutionären Demokratie" und Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit anstelle einer unkontrollierten Parteiherrschaft entwickelt.
Es ist keine systematische politische Abhandlung, sondern ein polemischer Text, der sich mit rhetorischen Kniffen immer wieder auf Mao und die marxistisch-leninistischen Klassiker beruft. Anderes wäre unter den politischen Zeitumständen auch kaum möglich gewesen. Doch im Kontext wird klar, dass nicht nur das "Lin-Biao-System", das "Li Yizhe" vordergründig attackieren, gemeint sein kann, sondern die gesamte maoistische Theorie und Praxis zur Diskussion stehen.
Die meisten Autoren sind ehemalige Rotgardisten, die sich in der "Kulturrevolution" (1966-76) für sozialistische Ideale begeistern ließen, aber bald merken mussten, dass sie selbst oft nur für Machtkämpfe, Intrigen und persönliche Vorteile hochrangiger Funktionäre missbraucht wurden. In dem Manifest "Demokratie und Rechtssystem im Sozialismus" bekennen sie sich weiter zu revolutionären Idealen, nehmen aber auch schon manche pragmatische Ideen vorweg, die nach Maos Tod in der Politik der "Reform und Öffnung" von der Parteispitze umgesetzt wurden.
Nicht nur zwischen den Zeilen...
"Wir sind junge Leute, die sozusagen 'den Tiger nicht fürchten'", schreiben Li Yizhe im Vorwort zu ihren Manifest, "doch wir sind uns durchaus über die wilde Raublust des Tigers im klaren - man könnte sogar sagen, daß wir schon mal von diesem Tier verschlungen worden sind. Aber es hat letztlich nicht fest genug zubeißen können, und wir blieben die Überreste, die es nicht hinunterwürgen konnte." (Li Yi Zhe, Helmut Opletal, Peter Schier: China: wer gegen wen? Rotbuch Verlag, Berlin 1977, S. 90-91)
Über die "neue Bourgeoisie": "Wir können heute miterleben, wie die notwendige besondere Fürsorge, die die Partei und das Volk einzelnen führenden Persönlichkeiten angedeihen lassen, aufgebläht ist und sich zu politischen und wirtschaftlichen Privilegien entwickelt hat, die außerdem unbegrenzt in Familie und Freundeskreis wuchern, bis hin zum gegenseitigen Tauschgeschäft mit den Privilegien." (S. 54)
Über Gleichmacherei in der Wirtschaft: "Während der Kulturrevolution haben wir uns gegen hohe Löhne, hohe Prämien und hohe Entgelte gewandt, aber können wir die Funktion der Prämien absolut negieren? Wieso kann ein Arbeiter, der seine Aufgaben vergleichsweise aktiv, gewissenshaft und verantwortungsvoll bewältigt, ein Übersoll erfüllt oder Erfindungen macht, nicht über seine Lohngruppe hinaus eine angemessene Prämie erhalten? ... Das unter dem Primat der proletarischen Politik stehende Prinzip 'Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung' ist ein Prinzip, welches den sozialistischen Aktivismus der Volksmassen ermuntert und bewahrt." (S. 39)
Über den Mao-Kult: "Alle paar hundert oder tausend Jahre wird ein 'Genie' hervorgebracht; das 'Genie' wird grenzenlos angebetet; man bezeugt dem 'Genie' absolute Treue; alles wird dem Willen des 'Genies' gemäß getan; wer gegen das 'Genie' ist, wird niedergeschlagen. Ist das denn nicht eine beispiellos perfekte ideologische und politische Linie? Denken, Forschen, Untersuchungen anstellen sind nicht erlaubt. 'Genies machen die Geschichte' hat einfach 800 Millionen Hirne ersetzt..." (S. 66)
Über die "Kulturrevolution": "Wir haben nicht vergessen, wie jene (hohlköpfige) Politik, die die Faulen belohnte und die Fleißigen bestrafte, alles ersetzt hat. Wir erinnern uns noch gut an das 'tägliche Studium' so wie einst das Rezitieren der heiligen Schriften; ... die "Treuebeweise', die den politischen Opportunismus förderten; ... Zusammenkünfte, das in Reih-und-Glied-Aufstellen, Schichtwechsel, Einkaufen, Briefeschreiben, Telefonieren, ja selbst das Essen - alles war von einem kräftigen religiösen Anstrich übertüncht. ... Die unzähligen 'Aktivisten-Kongresse' waren in Wirklichkeit die Zurschaustellung alles Falschen, Üblen und Häßlichen und Spielhöllen, die zehntausendfachen Gewinn versprachen." (S. 59-60)
Über Opfer der "Kulturrevolution": "... allein in der Provinz Guangdong wurden fast 40.000 der revolutionären Volksmassen und Kader umgebracht, die eingesperrten, gemaßregelten und verfolgten revolutionären Kader und Massen gehen in die Millionen." (S. 62)
Über die Gegner von Demokratie: "Was? Ihr wollt Demokratie? Ihr seid Reaktionäre! Und weil Ihr Reaktionäre seid, kann Euch Demokratie nicht gewährt werden. Diese Leute haben immer ein Sprüchlein parat, und besonders lieben sie es, den Vorsitzenden Mao über die demokratische Diktatur des Volkes zu zitieren." (S. 105)
Über Kontrolle durch das Volk: "Man braucht der Parteiführung nicht erst zu sagen, dass sie sorgfältig auf die Meinungen der Massen hören sollte, ebensowenig muß man erwähnen, daß die Volksmassen gegenüber der Parteiführung auf allen Ebenen das Recht auf Ausübung der revolutionären Kontrolle besitzen. ... Deshalb sollten wir uns nicht vor einer offenen Opposition fürchten, sofern sie die Disziplin einhält und keine subversiven Pläne verfolgt." (S. 110)
Das Schicksal von "Li Yizhe"
Die Autoren – u.a. Li Zhengtian (李正天), Chen Yiyang (陈一阳) und Wang Xizhe (王希哲), aus deren Namen das Pseudonym gebildet wurde – erhalten zunächst Unterstützung aus dem Parteiapparat, werden aber im Verlauf des Jahres 1974 verhaftet und gemaßregelt. Die Propagandaabteilung des Provinz-Parteikomitees von Guangdong verfasst im Dezember 1974 eine langatmige offizielle Kritik der Li-Yizhe-Wandzeitung, die das Manifest als "bösartigen Angriff auf den großen Führer, den Vorsitzenden Mao, die Maotsetungideen und das ZK der Partei mit dem Vorsitzenden Mao an der Spitze" identifiziert. (S. 120)
Diese offizielle Kritik wird (in angeblich 100.000 Exemplaren) an Funktionäre im ganzen Land verschickt wird, mit dem gesamten Originaltext von "Li Yizhe" im Anhang, womit das kritische Manifest erst recht landesweit in allen Details bekannt wird!
Erst zu Beginn der Reformpolitik 1979 lässt die neue Parteiführung alle Mitglieder der Gruppe frei. In einer feierlichen Zeremonie in Kanton werden sie offiziell rehabilitiert, die KP-Medien im ganzen Land berichten darüber. Xi Zhongxun, der Vater der späteren KP-Vorsitzenden Xi Jinping, spielt als Parteichef der Provinz Guangdong dabei eine entscheidende Rolle.
Einige Aktivisten wie der frühere Rotgardist Wang Xizhe schließen sich 1979 der Bürgerrechtsbewegung des "Pekinger Frühling" an, geben unabhängige Zeitschriften heraus und nehmen später auch an den Studentenprotesten von 1989 teil. Wang Xizhe wird zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt. Nach insgesamt mehr als 13 Jahren Haft kann er 1996 schließlich nach Hongkong flüchten und erhält politisches Asyl in den USA.
Li Zhengtian engagiert sich später kaum noch in der Bürgerrechtsbewegung, mit tagespolitische Äußerungen hält er sich zurück. Als Professor an der Kantoner Kunstakademie (Guangzhou Meishu Xueyuan 广州美术学院) kalligraphiert er aber gerne den Spruch "Demokratie und Rechtssystem", den ursprünglich des Titel des Manifests. 2010 wird er Mitautor einer in Hongkong publizierten umfassenden Dokumentation über die Li-Yizhe-Gruppe (Chen Jilu, Li Yizhe u.a.: Li Yizhe Shijian [Der Fall Li Yizhe]. Zhongguo Jiaodian Chubanshe. Hongkong 2010), darin wird auch ausführlich dokumeniert, dass neben den drei Autoren, die der Gruppe den Namen gaben (und einem weiteren Hauptakteur, Guo Hongzhi, der damals anonym bleiben wollte) mehr als zwei Dutzend weitere Aktivisten an den Diskussionen und der Verbreitung des Textes beteiligt waren.
Zu ihnen gehört auch die damals 18-jährige Gong Xiaoxia (龚小夏 Sasha Gong). Sie stand nach der Verhaftung der Li-Yizhe-Hauptakteure 1974 viele Monate unter Hausarrest, kann aber später in Peking studieren und ein Stipendium für Harvard-Universität in den USA bekommen. Sie nimmt die amerikanische Staatsbürgerschaft an, kandidiert bei Wahlen im Bundesstaat Virginia für die Republikanische Partei und übernimmt 2012 die Leitung des chinesischsprachigen Abteilung des Auslandsrundfunks "Voice of America". Im Mai 2017 wird Gong allerdings in einem Streit um ein Interview des Senders mit einem exilierten chinesischen Regimekritiker von ihrem Posten suspendiert. Ihre Erinnerungen, auch über die Zeit mit der Li-Yizhe-Gruppe, schreibt sie in ihrem Buch "Born American: A Chinese Woman's Dream of Liberty" (Nimble Books, 2009) nieder.