Emmanuel Bellefroid

Französischer Sinologe, Jahrgang 1949, war zwischen 1976 und 1981 mehrmals als Übersetzer und Experte an der französischen Botschaft in Peking stationiert. In dieser Funktion lernte er 1980 die Malerin Li Shuang aus der Gruppe "Die Sterne" kennen, mit der er eine Liebesbeziehung einging. Li wurde daraufhin festgenommen und wegen "Hooliganismus" zu zwei Jahren "Umerziehung" geschickt. 1983 durfte sie nach Frankreich ausreisen, wo sie Bellefroid heiratete. Die Ehe wurde 2013 geschieden. In den 1980er-Jahren publizierte Emmanuel Bellefroid unter dem Pseudonym "Claude Widor" mehrere Bücher und Materialsammlungen zur chinesische Demokratiebewegung, u.a. während eines Forschungsaufenthaltes an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Danach führte er zusammen mit Li Shuang eine Zeitlang in Paris eine Kunstgalerie. Bellofroid betrieb auch eine auf China spezialisierte Handelsfirma.

Interview mit Emmanuel Bellefroid (am 27. April 2014 in seiner Wohnung in Paris)

Interviewer (Helmut Opletal): Herr Bellefroid, Sie haben die Demokratiebewegung selbst miterlebt und waren ab 1976 zu einer ganz außergewöhnlichen Zeit in China?

Emmanuel Bellefroid: Von 1976 bis 1981. Und diese Zeit war vor allem deshalb außergewöhnlich, weil man auf einmal mit den Chinesen reden und diskutieren konnte, sie hatten plötzlich keine Angst mehr. Ich hatte 1978 eine erste Gelegenheit, auch wir wollten mit ihnen sprechen. Auf einmal war es ganz natürlich, dass uns Chinesen ihre Ideen und Vorstellungen schilderten, es war als ob eine Mauer verschwunden war. Auch mir wurden die Augen geöffnet, ich war politisiert, das stammte von meinem Vater. Und ich bin 1978 mit Ideen nach China gekommen, die ich mir angelesen hatte. Es waren die Leute von der "Mauer der Demokratie", die mir den Schleier vor den Augen genommen haben, um sozusagen das wahre Bild von China sehen zu können, das wir davor nicht wahrnehmen konnten.

Interviewer: Das heißt, Sie kamen aus einer kommunistischen Familie?

Bellefroid: Ja, mein Vater war Kommunist wie viele Intellektuelle damals. Aber mit den Ereignissen 1956 in Ungarn und 1968 in Prag bekam er seine Zweifel, schon 1956 hat er seinen Parteiausweis zurückgegeben.

Interviewer: Für Sie hat das wohl bedeutet, dass Sie sich dafür interessiert haben, was in der Welt vorgeht, für gesellschaftliche Entwicklungen. Ist daraus auch Ihr Interesse für China entstanden?

Bellefroid: Ganz genau, aber es gab auch das Jahr 1968, ich begann mich für die Ideen und Texte Maos zu interessieren. Doch nicht nur das, 1969 habe ich meine ersten Chinesisch-Lehrbücher erworben und ich fand mich bald in einem Kurs, um die schwierige chinesische Phonetik zu üben. Ganz ehrlich, zu Beginn habe ich die Sprache vor allem gelernt, um die Texte Maos im Original lesen zu können, auch wenn das vielleicht etwas absurd klingt.

Interviewer: In Peking haben Sie dann an der französischen Botschaft gearbeitet?

Bellefroid: Richtig, ich war in der Presse- und Dokumentationsabteilung, habe auch Übersetzungen gemacht. Ich hatte schon einige Zeit in Singapur, Japan und Taiwan verbracht, schrieb an meiner Dissertation und sprach schon recht gut Chinesisch. Für die französische Botschaft war ich sozusagen der Sinologe vom Dienst, man hat mich auch immer wieder zur "Mauer der Demokratie" geschickt, um die dortigen Debatten zu verfolgen. Doch ich war selbst völlig mitgerissen von dem, was dort passierte. Meine Arbeit war also auch, für die Botschaft zu verfolgen, was in China tatsächlich vorging.

Interviewer: Wie ist das dann gewesen, wie haben Sie realisiert, was wirklich in den Köpfen der Chinesen ablief, Ende 1978?

Bellefroid: Das erste Mal hatte ich ja schon Ende 1976 Gelegenheit gehabt, im Schanghaier Peace Hotel mit einigen Kindern höherer Funktionäre ganz offen zu reden. Ich glaube, die haben uns für Spione gehalten, denn sie haben uns angeboten, gegen Geld geheime Interna aus der Kommunistischen Partei zu verkaufen, sogar aus der Militärkommission. Ich habe das meinem Botschafter berichtet, der meinte, das sein für uns viel zu sensibel, aber ich sollte sie mit den Amerikanern in Kontakt bringen, was ich auch getan habe. Das war also vor dieser Zeit.

Ich bin damals aus China weg, aber Ende 1978 wiedergekommen. Was aus diesen Leuten geworden ist, weiß ich nicht. Als ich 1978 wiederkam, war jedenfalls die äußere Fassade, die die offizielle Propaganda in China errichtet hatte, völlig zusammengebrochen. Durch die Wandzeitungen, die man nun lesen konnte, und auch durch die persönlichen Gespräche war auf einmal klargeworden, dass alles, was uns die Propaganda präsentiert hatte, Potemkinsche Dörfer waren, hinter denen sich all die schlimmen Sachen in China verbargen, eine schreckliche Diktatur. Leute wie Wei Jingsheng haben mir erstmals von der Großen Hungersnot Anfang der 1960er Jahre erzählt, vom Kannibalismus, den es gegeben hat, dem Kinderhandel in der Provinz Anhui, wo er damals war. Über die Kulturrevolution hat er nicht schlecht gesprochen, sein Vater war ja ein hoher Funktionär, er selbst war bei den Roten Garden, auf der guten Seite sozusagen. Natürlich hat er uns auch von der Kulturrevolution erzählt. Was mich damals bestürzt hat, waren vor allem die Massaker und dieser Wahnsinn unter Mao Zedong.

Interviewer: Konnten Sie ganz offen Kontakt mit den Aktivisten halten, an der "Mauer der Demokratie" mit ihnen sprechen, oder war das nur, wenn man unbeobachtet war?

Bellefroid: Nein, nein, die Aktivisten haben wirklich den Kontakt zu uns gesucht, sie wollten mit uns reden, sobald sie merkten, dass wir Chinesisch sprachen. Wei hat auch Unterstützung für Fu Yuehua gesucht, eine Frau, die für die Leute demonstriert hatte, die Opfer der Kulturrevolution waren. Sie wurde deshalb im Februar 1979, glaube ich, verhaftet [es war tatsächlich der 9. Januar], und im März sollte ihr der Prozess gemacht werden. Wei Jingsheng wollte den Prozess aufzeichnen, und ich habe ihm dafür ein Tonbandgerät besorgt. Er hat das Protokoll des Prozesses dann in der Nummer 3 oder 4 seiner Zeitschrift "Tansuo" [Erkundungen] veröffentlicht. [Es handelte sich in Wirklichkeit nicht um einen Prozess-Mitschnitt, sondern um Gespräche einer Delegation von fünf Vertretern verschiedener unabhängiger Zeitschriften,mit Gefängnis- und Polizeisprechern.  Die Redakteure forderten dabei eine Freilassung von Fu Yuehua. Diese Konversationen ließ Wei aufzeichnen und für die Nummer 4 von "Tansuo" vorbereiten. Aufgrund der Verhaftung Weis ein paar Tage später konnte die Zeitschrift zunächst nicht mehr erscheinen.] Für solche Dinge brauchten die Leute also gelegentlich Unterstützung, und wir wussten natürlich, dass das auch eine Wirkung in der Öffentlichkeit hatte.

Das war auch so mit den Berichten ausländischer Journalisten, da machten wir nicht viel Anderes. Ich war also ein wenig wie die Journalisten, die Chinesisch beherrschten, deren es damals schon einige gab. Aber die interessierten sich oft mehr für das, was sich in den Sitzungen des Zentralkomitees abspielte, oder für Informationen über den chinesischen Feldzug gegen Vietnam. Was dann übrigens auch Wei Jingsheng zum Verhängnis wurde, weil ihn ausländische Journalisten vor allem nach der chinesischen Militärstrategie fragten, oder ob die chinesischen Truppen vor der vietnamesischen Grenze haltgemacht hatten oder weitermarschiert waren. Man hat Wei später in seinem Prozess vorgeworfen, dass er solche Details ausgeplaudert hätte. Die Journalisten interessierten sich also weniger für die Ideen der jungen Leute, für jemanden wie mich waren die jedoch besonders interessant, denn die Rebellion der jungen Chinesen erinnerte mich an meine eigene Jugend, an meine eigene Auseinandersetzung mit den Lehren Maos, von denen ich mich noch nicht völlig gelöst hatte. In dieser Hinsicht ähnelte mein Weg durchaus dem, den manche von ihnen genommen hatten. Ich war etwas später dran, sie waren schneller als ich, das hat mich an der damaligen jungen Generation besonders fasziniert.

Leute wie Ren Wanding oder Xu Wenli sind zwar nicht zu uns nachhause gekommen, aber wir haben öfter sie im Auto mitgenommen und dort diskutiert. Es war ein Vorteil, dass ich ein eigenes Auto hatte, da konnten wir während der Fahrt ungestört miteinander reden. Marie Holzman [Bellefroids damalige Frau] hat ein Buch geschrieben, in dem sie behauptet, dass sie gefahren sei, aber sie hatte gar keinen Führerschein, war also von mir abhängig. Unser erstes Treffen mit Wei Jingsheng hatten wir in einem russischen Restaurant beim Zoo, "Moskau" hieß es, da haben wir für ihn Tomaten-Omeletts bestellt, für die Chinesen war das etwas ganz Exotisches.

Wir nahmen sie aber nicht in unsere Wohnungen mit, das wäre zu gefährlich gewesen, denn wir lebten in einem gut bewachten Diplomatenviertel. In den Häusern passten die chinesischen Aufzugswärterinnen genau auf, wer ein- und ausging, und an den Eingängen zu den Wohnblocks kontrollierten Soldaten. Niemand von den Chinesen hat es gewagt da hineinzugehen, und auch wir wollten kein Risiko eingehen. Aber Xu Wenli habe ich bei sich zuhause getroffen, ich glaube, ich bin auch bei Wei Jingsheng und seiner damaligen tibetischen Lebensgefährtin in deren Wohnung gewesen. Wir haben sie also in ihrer chinesischen Umgebung getroffen.

Interviewer: Aber es gab noch andere Leute , die Sie besonders interessant fanden.

Bellefroid: Später waren das die Künstler. Die politischen Aktivisten standen natürlich an vorderer Front, sie waren so etwas wir die Anführer der Bewegung, bei "Tansuo", der Zeitschrift von Wei Jingsheng, waren es im Grunde vier Leute, also ganz wenige. Lu Lin hat "Tansuo", fortgeführt, nachdem Wei verhaftet worden war. Später hat er Geschäfte gemacht, aber auch er kam schließlich ins Gefängnis. Er lebt immer noch in China, meines Wissens hat er das Land nie verlassen. Danach hatte ich Kontakt zu den Künstlern und zu den Leuten von "Beijing zhi Chun" [Pekinger Frühling] und "Jintian" [Heute], einer literarischen Zeitschrift, in der auch der Bildhauer Wang Keping publiziert hat. Und 1979 erlebten wir die ersten Poesie-Lesungen in den Parks von Peking mit.

Interviewer: Als Sie damals wichtige Persönlichkeiten der Demokratiebewegung kennenlernten, hatten Sie eigentlich das Gefühl, dass die Entwicklung so weitergehen würde, oder hatten Sie Angst, dass das nur einige Wochen dauern könnte, und diese Leute bald verhaftet würden? Und wie dachten die Leute selbst darüber?

Bellefroid: Sie machten sich nichts vor, sie waren überzeugt, dass sie verhaftet würden. Wir als westliche Beobachter kannten damals ja die russischen Dissidenten und die Opposition in den Ländern Osteuropas, wo wir schon das Gefühl hatten, dass die Dissidenten und die Samizdat-Presse etwas in Richtung Demokratie bewegen konnten. Und das ist ja später auch passiert, die Dissidenten haben nicht unbedingt selbst die Macht übernommen, außer in der Tschechoslowakei und in Polen. Also wir haben ein wenig in diese Richtung gedacht, weil es diese Vorbilder in Osteuropa gab.

Nur die chinesischen Aktivisten dachten nicht so. Sie meinten eher, sie würden sich opfern, weil es gerade ein passender historischer Moment war. 1978/79 konnte man nur schwer vorhersehen, wie es in China weitergehen würde. Die Aktivisten waren sehr mutig. Das war aber die Furchtlosigkeit der Jugend, und die, die sich damals der Bewegung anschlossen, sahen sich als zukünftige Märtyrer. Sie machten sich keine Illusionen, und in der Tat wanderten die meisten bald für viele Jahre ins Gefängnis, Wei Jingsheng etwa wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Von Wei selbst habe ich allerdings später in den USA erfahren, dass er sehr wohl überzeugt war, die Richtungskämpfe innerhalb der KP ausnützen zu können. Unter Deng Xiaoping meinte man damals ja auch, dass die Reformer die Unterstützung von der Straße gegen die Konservativen in der Partei nutzen sollten. Wei Jingsheng wusste das, aber er machte sich Illusionen, glaubte zum Beispiel noch später im Gefängnis, der Parteichef Jiang Zemin würde über einen Abgesandten mit ihm über seine Freilassung verhandeln.

Doch waren die Dissidenten letztlich recht kleine isolierte Gruppen, die zwar gewisse Ideen aus der chinesischen Bevölkerung aufgriffen, aber doch in einem sehr engen Rahmen. Die Bewegung war weitgehend auf Peking beschränkt. Sie konnten öffentlich reden, weil Deng Xiaoping sie instrumentalisieren wollte, und auch, weil es den Widerhall über das Ausland gab. Die Ausländer haben ihnen das Gefühl vermittelt, dass sie auf der richtigen Seite stünden, sie haben ihre Ideen verbreitet, und sie haben ihnen auch einen gewissen Schutz verschafft. Deng Xiaoping brauchte die "Mauer der Demokratie" etwa ein Jahr lang, dann ließ er sie in den Yuetan-Park im Westen Pekings verbannen.

Interviewer: Wussten auch die Aktivisten , dass sie benutzt wurden?

Bellefroid: Ich glaube schon. Sie hatten ja die Kulturrevolution miterlebt und kannten solche politischen Spiele der KP. Davor hatte es schon die Anti-Rechts-Kampagne und die Bewegung der "Hundert Blumen" gegeben, die sich alle als Fallen für die Kritiker entpuppt hatten. Sie haben sich also nicht wirklich Illusionen gemacht und auch offen darüber gesprochen. Sie kannten die Geschichte der KP sehr gut, das was sich zwanzig Jahre zuvor und während der Kulturrevolution abgespielt hat, war ihnen sehr bewusst.

Interviewer: Hatten Sie das Gefühl, dass die Leute der Demokratiebewegung mit Kadern innerhalb des Systems in Kontakt standen und kommunizierten? Gab es Funktionäre, die mit den Aktivisten sprachen? Gab es so etwas wie einen Dialog?

Bellefroid: Das hat es sicher gegeben, aber ich glaube nicht generell. Ja, die Leute von der Peking-Universität [während der Wahlkampagne 1980] standen mit Funktionären in Kontakt, und auch die Künstler der Sterne-Gruppe haben mit Vertretern der Kunstakademie und Kulturfunktionären verhandelt. Die politischen Aktivisten waren allerdings gut informiert. Sie lasen "Cankao Xiaoxi" ["interne" Zeitung, die für Funktionäre über das internationale Geschehen berichtete und ausländische Medienberichte auszugsweise nachdruckte], sie haben auch viel von ihren Eltern erfahren, wenn diese selbst Funktionäre mit Zugang zu vertraulichen Dokumenten waren, wie etwa Wei Jingsheng, dem das schließlich zum Verhängnis wurde. Direkte Kontakte mit den Behörden hat es glaube ich keine gegeben.

Interviewer: Gab es Funktionäre, die die Aktivisten gewarnt haben, die sagten, dies dürft Ihr tun, jenes aber nicht?

Bellefroid: Ich meine, 1978/79 besaßen die wichtigsten Redakteure der unabhängigen Zeitschriften zwar gute Informationen, aber nicht mehr. Sie wussten, dass es in der Partei Fraktionsstreit gab. Aber ich glaube nicht, dass sie direkten Zuspruch bekamen. Es gab vielmehr einen gewissen Freiraum, den sie sofort ausnutzten. Es gab ja Ende 1978 viele Opfer der Kulturrevolution, die nach Peking kamen, um ihre Rehabilitierung zu fordern. Die Leute der "Qimeng She" [Gesellschaft für Aufklärung] gehörten de facto auch zu diesen Beschwerdeführern. Und genau genommen hat vieles schon 1976 begonnen.

Interviewer: Haben Sie die "Qimeng She"-Gruppe mit Huang Xiang damals auch getroffen? War Huang Xiang für Sie mehr ein Künstler oder ein politischer Kopf?

Bellefroid: Ja, ich habe sie kennengelernt, sie haben in Peking ein riesiges Dazibao [Wandzeitung] geschrieben. Huang Xiang habe ich mehr als Schriftsteller, als Lyriker kennengelernt, aber die Gruppe schrieb auch sehr politische Gedichte. Auch sie sind damals [aus Guizhou] nach Peking gekommen, um Rehabilitierung zu fordern. Ich glaube, sie waren die ersten, die Wandzeitungen geschrieben haben, als die "Mauer der Demokratie" bei der Xidan-Kreuzung noch nicht existierte. Ich selbst habe - davon abgeleitet - für einige meiner Publikationen später das Pseudonym "Victor Sidane" gewählt, das wissen Sie ja? [lacht] Das war jedenfalls die erste Gruppe, die ich damals getroffen habe. Ich kannte sie nicht sehr gut, weil sie doch ein wenig ängstlich waren. Aber sie haben sich immerhin getraut, ihre Wandzeitung an einer Mauer an der Westseite des Tiananmen-Platzes aufzuhängen. Das fand ich toll.

Interviewer: Sie haben gemeint, und es ist ja auch bekannt, dass die ausländischen Reporter in Peking die Informationen über die Ereignisse in Peking verstärkt haben, und die Meldungen auf diese Weise auch wieder nach China zurückgekommen sind, etwa über internen Publikationen, die über westliche Medienberichte informierten. Dabei interessiert mich die Frage, ob es von ausländischer Seite, etwa den ausländischen Botschaften, auch Versuche gab, die Demokratiebewegung zu beeinflussen oder zu unterstützen. Aus Ihrer Position heraus haben Sie damals vielleicht einen Einblick gewonnen.

Bellefroid: Ich kann da nur über die französische Botschaft und die Ausländer im allgemeinen sprechen. Ich war damals einer der am besten Informierten, ich wusste mehr als die Amerikaner, weil ich Chinesisch sprach und dadurch einen recht natürlichen Zugang zu den Leuten fand. Was die Amerikaner genau gemacht haben, weiß ich nicht, die französische Botschaft hat mir eigentlich keinerlei Auftrag erteilt, irgendetwas Bestimmtes zu tun. Ich war auch kein Karrierediplomat, sondern ein untergeordneter Mitarbeiter, und ich war vor allem selbst fasziniert und mitgerissen von den Ereignissen. Später hat man mich deshalb beschuldigt, dass ich die Demokratiebewegung subventioniert hätte. Konkret haben wir nur die Zeitschriften zu höheren Preisen abonniert, vielleicht das Zehnfache von dem, was Chinesen bezahlten. Aber das waren ein paar Yuan! Wir haben für eine Ausgabe von "Tansuo" oder "Si Wu Luntan" [Forum 5. April] vielleicht einen Yuan bezahlt [damals etwa 0,7 US-Dollar], während man von den Chinesen nur einen oder fünf Fen verlangte. Für uns war das eine spontane Sache. Meines Wissens war das auch die einzige Art, wie Ausländer die chinesische Demokratiebewegung mit einigen Yuan unterstützt haben.

Interviewer: Gilt das auch für die Herstellung der Zeitschriften?

Bellefroid: Absolut. "Tansuo" und "Si Wu Luntan" wurden übrigens am gleichen Ort produziert, und zwar hektografiert, das heißt, die Seiten wurden auf Wachsmatrizen geschrieben und dann mit einfachen Geräten Seite für Seite von Hand vervielfältigt. So war das für alle Zeitschriften. Nur "Beijing zhi Chun" konnte einmal eine Nummer in einer Druckerei herstellen, die späteren Nummern waren auch hektografiert. Sie hatten alle nur ganz primitiven Apparate, da war nichts subventioniert. Das einzige, das ich einmal zur Verfügung gestellt habe, war ein Tonbandgerät, das sie für Interviews benutzten, oder um die Kundgebung von 1. Oktober 1979 aufzuzeichnen. Das war das einzige Tonbandgerät, das die Demokratiebewegung besessen hat. Vielleicht mit Ausnahme der Peking-Universität, wo ausländische Studenten Tonaufzeichnungen gemacht haben. Ich habe Kopien von solchen Aufzeichnungen besessen. Von den Diplomaten hat ihnen - soviel ich weiß - sonst niemand etwas zukommen lassen, auch die Amerikaner nicht.

Interviewer: Ich frage das, weil es manchmal geheißen hat, die Demokratiebewegung hat Unterstützung von außen erhalten.

Bellefroid: Nein, das stimmt nicht, das hätten wir vielleicht machen sollen, auch wenn ich nicht weiß, was das letztlich geändert hätte. Meine Unterstützung war ausschließlich eine persönliche, niemand hat mich jemals dazu aufgefordert, irgendetwas Bestimmtes zu tun. Es gab vorher einmal - ich kann das jetzt sagen - von einem Chinesen das Angebot, Abhörmikrofone in der Militärkommission zu installieren, aber unser Botschafter hat das entrüstet abgelehnt. Was die Amerikaner dann gemacht haben, weiß ich nicht, ich glaube, die haben sich letztlich drauf eingelassen. Die Demokratiebewegung funktionierte meiner Ansicht nach nicht viel anders als in den Ländern Osteuropas. Die Ausländer dienten vor allem dazu, die Informationen zu verbreiten, aber es gab keine Manipulation.

Interviewer: Vielleicht noch ein wenig zu den Künstlern. Wie haben Sie mit denen damals Kontakt bekommen.

Bellefroid: Das war etwas später, die erste Ausstellung der Xingxing-Gruppe ["Sterne"] fand in einem Park außerhalb der "Verbotenen Stadt" [alter Kaiserpalast] statt. Die Künstler waren wie die Demokratie-Aktivisten sehr offen und begierig, sie waren zum Beispiel interessiert, Kunstbücher anzuschauen. Sie hatten ja gar nichts in diese Richtung. Der Bildhauer Wang Keping, der als ein Sprecher der Gruppe auftrat und auch Kontakt zu den Ausländern hielt, war ziemlich politisch, auch die Objekte, die er in den beiden ersten Xingxing-Ausstellungen gezeigt hat, waren sehr politisch inspiriert, und einige seiner öffentlichen Äußerungen erschienen äußerst gewagt, er hätte dafür auch ins Gefängnis gehen können, das blieb ihm aber schließlich erspart. Durch Wang Keping habe ich dann die anderen kennengelernt.

Interviewer: War das damals, bei der ersten Ausstellung unter freiem Himmel?

Bellefroid: Nein, erst später. Von der verbotenen spontanen Freiluftausstellung, die dann zur großen Demonstration [am 1. Oktober 1979] geführt hat, habe ich erst einen Tag später erfahren. Die Bilder, die am Außenzaun des Pekinger Kunstmuseums aufgehängt waren, hatte man schon entfernt und ins Innere des Gebäudes gebracht. Ich war mit anderen Arbeiten an der Botschaft beschäftigt, erst am nächsten Tag erfuhr ich, was passiert war- ich weiß nicht mehr von wem, vielleicht von Xu Wenli oder einem anderen politischen Aktivisten.

Die Gruppen waren ja sehr eng miteinander verbunden, und die Künstler hatten begonnen, Illustrationen für die Zeitschriften zu machen, u.a. für "Jintian". So hat Wang Keping auch [den Schriftsteller] Bei Dao kennengelernt, Ma Desheng machte Illustrationen für "Jintian", er war ebenfalls an der nicht autorisierten Kunstausstellung beteiligt, wie auch Qu Leilei, Wang Keping oder Yan Li. Wir hatten sehr schnell ein vertrautes Verhältnis zu ihnen. Die politische Bewegung hatte schon sechs Monate früher begonnen, die Künstler gründeten ihre Gruppe im Frühjahr 1979.

Wei Jingsheng war schon im März verhaftet worden, im Oktober ist er dann verurteilt worden. Ende 1979 durften die "Sterne" dann in einem Park [in einem Pavillon im Pekinger Beihai-Park] die erste offizielle Ausstellung organisieren, die zweite folgte 1980 in der Pekinger "Galerie der schönen Künste". Auch die Künstler haben von den Fraktionsfehden in der KP sehr profitiert, als Deng Xiaoping versuchte, Hua Guofeng und die Linken ein wenig auszubooten.

Die Künstler sind auch gerne zu uns nachhause gekommen, etwas, das die politischen Aktivisten nicht wollten. Mit den Künstlern haben wir Partys gefeiert, getrunken, getanzt und gesungen. Tanzen und Coca-Cola mochten sie besonders gern. Die "Sterne"-Künstler waren jedenfalls sehr offen. Aber zumindest einigen von ihnen war nicht ganz bewusst, was ihnen zustoßen könnte. Denn die Polizei hat die Künstler-Bewegung in Verbindung mit den politischen Aktionen gesehen und sie als ebenso gefährlich eingeschätzt wie die politische Demokratiebewegung. Sie sind also ein großes Risiko eingegangen.

Später haben wir uns auch öffentlich mit ihnen gezeigt, es gibt Fotos, wo wir mit ihnen drauf sind, an die zehn Leute von ihnen. Und wir haben mit ihnen Tanzveranstaltungen im Freien organisiert, im alten Sommerpalast Yuanmingyuan. Es gibt eine ganze Menge Fotos, die unser enges Verhältnis mit der "Sterne"-Gruppe damals zeigen. Es war alles sehr entspannt, niemand machte sich Sorgen, außer vielleicht die politischen Köpfe Wang Keping und Ma Desheng, und auch Huang Rui. Huang ist eine sehr misstrauische Person, aber er macht oft beängstigende Dinge, geht unkalkulierbare Risiken ein, aber erst im letzten Moment. Wenn man ihn nach seiner Meinung fragt, ist er immer dafür, sich zurückzuziehen und nichts zu tun. Aber dann ist er doch dabei. Das war auch so bei den damaligen Verhandlungen mit den offiziellen Kunst-Verantwortlichen. In den Diskussionen war er immer moderat, er stand den gemäßigten Leuten von "Beijing zhi Chun" nahe, während Wang Keping und Ma Desheng eher die Haltung von "Tansuo" oder "Si Wu Luntan" vertraten, die damals am radikalsten auftraten. Huang Rui war irgendwie der Mittelpunkt der "Sterne"-Gruppe. Ich bin nie bei ihm zuhause gewesen, sehr wohl aber bei Qu Leilei, dem Sohn eines hochrangigen Funktionärs, der im ZK oder etwas ähnlichen saß. Mit ihm haben wir einen Tausch veranstaltet. Die Künstler haben damals nämlich keine Bilder verkauft.

Ich wollte ihm Bilder abkaufen, er wusste aber nicht, welchen Preis er dafür verlangen könnte, so haben wir uns auf einen Tauschhandel geeinigt. Ich habe ihnen einen Kühlschrank besorgt, das war gar nicht so einfach. Normale Chinesen besaßen keine Kühleschränke, ich musste ihn im "Freundschafts-Kaufhaus" erwerben, denn die Chinesen brauchten dafür "Waihuiquan" [Devisen-Kupons], die kriegten nur die Ausländer. Wir haben ihn dann auf dem Autodach zu ihm transportiert. Für Wang Keping musste ich in Hongkong einen Stereo-Recorder mit zwei großen Lautsprechen besorgen. Mit so etwas herumzuspazieren galt damals als besonders chic. Auch wir machten einen Tausch, er gab mir dafür eines seiner Werke aus der "Sterne"-Ausstellung.

Erst später haben sie allmählich begonnen, Bilder und Kunstobjekte auch zu verkaufen. Ma Desheng wollte dabei einheitliche Preise für alle Werke festlegen. Aber seine Vorstellungen waren völlig aus der Luft gegriffen. Eine Skulptur, ein Ölbild, egal welches Format, oder ein Holzdruck, von dem es vielleicht zehn oder sogar fünfzig Abzüge gab, sollten alle das Gleiche kosten. Ich wollte ihm klarmachen, dass man für ein Werk, von dem viele Kopien existierten, nicht das Gleiche verlangen konnte wie für ein einzelnes Original, aber das ging nicht in seinen Kopf.

Wir haben uns also auf 300 Yuan geeinigt [an die 100 US-Dollar damals], egal ob es sich um ein Gemälde von Huang Rui, eine Skulptur von Wang Keping oder einen Holzdruck von Ma Desheng handelte, von dem es 50 Abzüge gab. Für einen Chinesen war das trotzdem ein kleines Vermögen, 300 Yuan entsprachen ungefähr sechs durchschnittlichen Monatslöhnen. Li Shuang etwa verdiente damals 34 Yuan im Monat. Wir haben also von ihnen gekauft oder weiter Tauschgeschäfte gemacht. Für uns waren 300 Yuan nicht viel, das entsprach etwa 300 französischen Francs. Es waren in jedem Fall ziemliche Fantasiepreise.

Interviewer: Das bringt mich natürlich zur Frage, ob damals ausschließlich Ausländer gekauft haben?

Bellefroid: Genau so war es, aber das gilt für die gesamte moderne chinesische Kunst. Ich würde sogar sagen, die moderne Kunst in China ist eine Erfindung des Westens. Nach 1989, oder schon ab 1985, als die ersten Chinesen ihr Studium an den wiedereröffneten Kunstakademien abgeschlossen hatten, waren es die Westler, die auswählten, was ihnen gefiel und was nicht. Die jungen Künstler haben in den 80er und 90er Jahren diesen Markt entdeckt und gemerkt, dass sich an westliche Ausländer gut verkaufen ließ. Deshalb meine ich, dass die chinesische Kunst damals zu hundert Prozent eine Schöpfung der westlichen Ausländer war, sie haben diesen Markt für chinesische Kunst kreiert. Die "Sterne"-Gruppe war allerdings nicht auf den westlichen Markt orientiert, als die Ausländer kamen, um sich mit chinesischer Kunst einzudecken, waren die "Sterne"-Künstler gar nicht mehr da. Nur die, die ihre Ateliers in Peking oder an den Kunstakademien hatten, profitierten davon.

Die "Sterne" haben irgendwie den Zug verpasst. Sie haben zwar politisch etwas erreicht, als sie ihre Demonstrationen und Ausstellungen veranstalten, aber vom Kunstmarkt haben sie nicht profitiert. Auch Huang Rui, der sicher keine Gelegenheit versäumt hätte, ist das nicht gelungen. Die Ausnahme war Ai Weiwei, der schon in den Vereinigten Staaten war, und dort in Kontakt mit den Kunsthändlern kam. Er ist der einzige der "Sterne", der Erfolg hatte, als er später zurück in China war. Zusammen mit Huang Rui vielleicht, auch Huang Rui hatte schon klare Vorstellungen von einer Karriere, nur ist Huang Rui dann nach Japan gegangen, während Ai Weiwei in New York war. Japan, das war mehr ein Exil für einen chinesischen Künstler, da gab es niemanden, der sich dafür interessierte. Erst danach hat er versucht, in der großen Kunstgalerie von Tokio auszustellen. Im Rückblick ging es vor allem darum, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Aber so war es auch bei manchen großen Künstlern: Wäre Picasso nicht in Paris gewesen, sondern in Barcelona geblieben, wäre er auch nicht Picasso geworden. So viel zu den ausländischen Einflüssen. Ma Desheng hat sich zur Welt geöffnet, und die Welt hat ihn geöffnet. In der Kunst hat sich China geöffnet, aber man hat China auch dazu gebracht sich zu öffnen, ein wenig wie in den Opiumkriegen 1840/1850, nur dass die Chinesen diesmal auch selbst wollten, dass die Tore geöffnet würden.

Interviewer: Die Sterne-Gruppe hatte immerhin auch in China einen großen Erfolg, eine Ausstellung, die einige zehntausend Leute besucht haben?

Bellefroid: Das stimmt, das war ein großer Erfolg, aber sie haben dort nichts verkauft. Kein einziger hat in China ein Bild verkauft, er gab auch keine Kunstsammler. Das hatte zwar einen großen Einfluss auf ihre künstlerischen Ideen, führte auch dazu, dass etliche Werke sehr politisch waren. Ich habe mir das Besucherbuch angesehen, wo viele ihre Kommentare hinterlassen haben, das Original ist jetzt im Besitz von Huang Rui. Aus den hinterlassenen Anmerkungen erkennt man, dass die Leute vor allem die politische Bedeutung der Werke gesehen haben, darüber hinaus die Nacktheit in den Aktbildern, also die Provokation. Dass sich ein Kunstwerk verkauft, war zwar nicht tabu, aber man dachte oft gar nicht an diese Möglichkeit. Es hat in China nach 1949 nie einen richtigen Kunstmarkt gegeben

Interviewer: Ging aus den Gesprächen, die Sie mit Künstlern führten, hervor, dass sie sich der Rolle bewusst waren, die die Ausländer spielten, und dass sie vorwiegend für Ausländer produzierten? Abgesehen vielleicht von den Anfängen, wo sie einfach versucht haben, aus dem Sozialistischen Realismus auszubrechen?

Bellefroid: Durchaus, einigen ist das sehr schnell bewusst geworden, Bo Yun zum Beispiel, der immer ein paar Bilder unter dem Arm hatte, wenn er im Botschaftsviertel aufgetaucht ist. Doch die meisten empfanden sich einfach als Künstler, sie haben sehr wenig verkauft. Es gab auch nur wenige Käufer, selbst 1981, als ich noch in China war, interessierten sich nur wenige dafür, erst nach 1989 war das anders. Es gab auch keine Kunstgalerien, man konnte nur in Museen ausstellen. Die Möglichkeiten waren also sehr begrenzt, entweder gar nichts oder gleich ein Museum. Nur die Kunstakademien wie die Zentrale Akademie in Peking hatte eigene Galerien, wo die Werke der Studenten ausgestellt wurden. Aber das war erst später in den 80er Jahren, die Akademie selbst wurde erst 1980 wiedereröffnet, um nach Aufnahmeprüfungen Studenten aufzunehmen. Aber von der "Sterne"-Gruppe war keiner dabei.

Interviewer: Warum hat sich Ihrer Meinung nach die "Sterne"-Gruppe nach 1980 so rasch zerstreut?

Bellefroid: Ich glaube nicht, dass sie sich zerstreut haben, im Gegenteil, sie haben sehr engen Kontakt gehalten, zunächst die, die geblieben sind. Einige sind die ganze Zeit in China verblieben wie Li Yongcun [Bo Yun] und Qu Leilei, die zumindest in den 80er Jahren dageblieben sind. Auch Ma Desheng und Wang Keping sind erst Mitte, Ende der 80er Jahre weggegangen, Wang 1984, als er geheiratet hat, auch Yan Li blieb. Sie haben weiter versucht Ausstellungen zu organisieren. Die wurden aber oft untersagt, manchmal an dem Tag, an dem sie eröffnet werden sollten.

Selbst später, als sie wirklich in aller Welt, in den USA, in Frankreich, zum Teil auch noch in China verstreut waren, haben sie weiter gemeinsame Ausstellungen organisiert, zum zehnten Jahrestag, zum fünfzehnten Jahrestag, das ist doch ganz außergewöhnlich! Das erinnert sogar ein wenig an Gruppen wie die Surrealisten der dreißiger Jahre, auch eine Gruppe, die gleichzeitig bildende Kunst und Literatur produzierte. Ein Grund für die "Sterne"-Gruppe zusammenzubleiben, war vielleicht auch die Schwierigkeit einzeln zu reüssieren, da sie sich als Gruppe einen Namen gemacht hatten. Und sie träumten weiter davon, einmal ein 20-, 30- oder 40-Jahre-Jubiläum gemeinsam zu begehen.

Interviewer: Wie sehen Sie die künstlerische Qualität der damaligen Werke der "Sterne"-Künstler?

Bellefroid: Ich glaube, einige von ihnen hatten durchaus das Zeug, Karrieren zu machen, wie sie etwa Ai Weiwei gemacht hat.

Interviewer: Aber gerade Ai Weiwei ist zwar später berühmt geworden, damals hat er aber keine große Rolle gespielt, er war eher eine Randfigur?

Bellefroid: Ja, weil er sehr früh in die USA gegangen ist, während der ersten "Sterne"-Ausstellung in Peking war er schon in New York [Anmerkung des Übersetzers: Ai Weiwei ging erst 1981 nach New York], er konnte nicht einmal mehr an der Eröffnung teilnehmen. Aber was er macht, entspricht durchaus dem Geist, der Idee der "Sterne", die sehr politisch ist. Auch Huang Rui hat sich nicht wirklich verändert, sie sind immer noch Oppositionelle, Dissidenten in ihrem Herzen, und das erklärt vielleicht, dass viele immer noch auf der Schwarzen Liste sind, auch Li Shuang. Durch Ai Weiwei erkennen sie jetzt immer noch etwas vom Geist ihrer Jugend, wenn man so sagen kann. Ai Weiwei ist natürlich auch ein besonderer Fall, mit seinen persönlichen Erlebnissen mit seinem Vater, [den bekannten Lyriker] Ai Qing in Xinjiang, wo er vergewaltigt und misshandelt wurde. Ich würde also durchaus sagen, dass Ai Weiwei auch heute noch den Geist der "Sterne"-Gruppe von damals verkörpert, auch wenn er an deren Aktivitäten kaum teilgenommen hat, weil er schon sehr bald in den USA war.

Auch Mao Lizi war sehr begabt, obwohl er nie eine Kunstausbildung genossen hatte. Die Akademien waren ja während der Kulturrevolution geschlossen, aber Mao Lizi ist der Beweis, dass man trotzdem sehr gut malen konnte, und Mao Lizi ist ein exzellenter Künstler! Li Shuang hat - wie auch andere - ein wenig Privatunterricht erhalten, als sie in den 70er Jahren auf dem Land war. Sie malte post-impressionistische Landschaften, die russische Schule. Die meisten haben sich für ganz bestimmte Stile interessiert, den Kubismus oder den Surrealismus. Man kann durchaus sagen, die chinesische Malerei hat sich durch die russischen Professoren weiterentwickelt, es gab keine post-impressionistische Vergangenheit, und in den 1970er-Jahren fanden sie sich plötzlich mit Picasso und dem Surrealismus wieder. Das versuchten sie in ihrer Ausstellung weiterzuverfolgen, das hat sie geprägt. Zuerst haben sie Versäumtes nachgeholt, aber sind dann gleich weiter nach vorne geprescht, die meisten zumindest, außer einigen, die sich an die Erwartungen der Ausländer angepasst  und politisch angehauchtes Plakatives im Stil "révo.cul." [französisches Wortspiel: Abkürzung für "Kulturrevolution", aber auch ausgesprochen wie "Revolution im Arsch"] produziert haben.

Wie Sie vielleicht wissen, hatte ich selbst eine Galerie in Paris. Ein guter Maler, an den ich an dieser Stelle denke, war Wang Guangyi, der den Stil "Révo.cul." geschaffen hat, mit der bekannten Serie "Die große Kritik". Er hat seine ganze Karriere über das Ausland gemacht, aber in Wirklichkeit hat er sich über die Ausländer mokiert, und das ordentlich!

Ich habe für ihn eine Ausstellung organisiert, sein Flugticket bezahlt, seinen Aufenthalt in Frankreich. Aufgrund von Fotos, die er mir geschickt hatte, hatte ich den Katalog mehr oder weniger fertig, die Bilder sollte er selbst mitbringen. Wir haben ihn am Flughafen abgeholt und gefragt, wo sind Deine Koffer? Er hat einfach gemeint, seine Malerei ist nicht so interessant, wir sollten was viel Moderneres, Avantgardistisches machen, eine riesige Neon-Installation, die wir hoch über die Champs Elysées aufhängen, zum Beispiel.

Die Vernissage in vierzehn Tagen stattfinden! Ich habe einen ziemlichen Wutanfall gekriegt und ihm schließlich gesagt: du wirst die Bilder für die Ausstellung in Paris einfach nochmals malen. Wir stecken dich in ein Atelier, wir helfen dir, aber du wirst nicht hinausgehen, bevor sie fertig sind. Li Shuang hat die Grundierungen gemacht, und er hat alles nochmals gemalt, im Atelier von Ma Desheng, das er damals nicht nutzte. Wir haben ihn also eingesperrt, und 14 Tage später war die Ausstellung fertig.

[Das Interview wurde auf Französisch geführt und für die Übersetzung redigiert und leicht gekürzt.]