Die erste Revolte auf dem Tiananmen-Platz

"Denkmal der Volkshelden" (Peking, April 1976)

Wenige Wochen nach dem Tod des pragmatischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai strömen in den Tagen vor dem traditionellen Totengedenken "Qingming" (1976 am 5. April) immer wieder Hunderttausende auf den Pekinger Tiananmen-Platz, um des am 8. Januar verstorbenen Ministerpräsidenten Zhou Enlai zu gedenken.

Es sind aber keinesfalls nur spontane Kundegebungen, an den Hochschulen und in vielen Staatsbetrieben haben Funktionäre die Trauerzüge organisiert.

Die Menschen bringen weiße Papierblumen und Kränze mit, die sie am "Denkmal der Volkshelden" in der Mitte des Platzes, wo der Märtyrer der Revolution gedacht wird, niederlegen. Parolen und Gedichte sind dem verstorbenen Regierungschef gewidmet, doch in mehr oder weniger versteckten Anspielungen wird auch Missfallen gegen Mao und seine radikalen politischen Mitstreiter signalisiert. Der österreichische Austausch-Student Martin Krott hat Anfang 1976 mit seiner Super-8-Kamera auf dem Campus der Peking-Universität und auf dem Tiananmen-Platz gefilmt.

Beinahe offener Volkszorn richtet sich gegen Jiang Qing, die Ehefrau der schon schwerkranken Parteivorsitzenden. Sie wird verdächtigt, seine Nachfolge anzustreben, wie einst die Tang-Kaiserin Wu Zetian (武则天).

Zhou Enlai – der "beliebte Ministerpräsident" ...

Die Trauer um Zhou Enlai scheint echt, viele haben in ihm einen gemäßigten Gegenpol zu Mao und seinen radikalen Dogmatikern gesehen.

Zhou Enlai war zwar lange Zeit ein loyaler Mitwirkender des maoistischen Systems, auch in der "Kulturrevolution" sah man immer an Maos Seite, doch Anfang der siebziger Jahre ist er verantwortlich für wichtige Schritte der Normalisierung nach den Jahren des Chaos und der internationalen Isolation Chinas. 

In den Augen vieler Chinesen steht er für Pragmatismus, Vorrang für wirtschaftliche Entwicklung und eine Öffnung nach außen. 

... und pragmatische Modernisierer

"Geliebter Ministerpräsident Zhou, wir behalten Dich ewig in Erinnerung"

Es ist Zhou Enlai, der zusammen mit Henry Kissinger den historischen Besuch des US-Präsidenten Richard Nixon in Peking einfädelt und dadurch eine erste vorsichtige Öffnung Chinas zum Westen signalisiert. Das Land, so meinen die Pragmatiker in Peking, brauche nicht nur ein friedliches Umfeld für seine wirtschaftliche und soziale Entwicklung, sondern auch wieder Anschluss an die technischen Errungenschaften im Ausland. Zhou war es auch, der schon 1963 erstmals den Begriff der "Vier Modernisierungen" (in Industrie, Landwirtschaft, Militärwesen und Wissenschaft) geprägt hat, der den Vorrang einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung vor den ideologisch geprägten Massenkampagnen signalisieren sollte. 1975, in einem seiner letzten Auftritte auf der Tagung des "Volkskongresses", greift Zhou dieses Schlagwort neuerlich auf.

Historische Anspielungen

Schon in den ersten April-Tagen ziehen unablässig endlos lange Trauerzüge Richtung Pekinger Tiananmen-Platz, es scheint manchmal als wolle man die etwas verhalten ausgefallene offizielle Trauer im Januar nun kompensieren. Die meisten Parolen klingen schlicht und wenig herausfordernd: "Ewiges Andenken" an Zhou Enlai wird gelobt, oder man spricht vom "geliebten Ministerpräsidenten".

Doch einzelne Gruppen haben ihre eigenen Slogans formuliert, in denen gegen "Kaiser", Diktatoren und Despoten verschiedenster historischer Epochen gewettert wird. Auf den Mauern des Heldendenkmals kleben kleine Zettel mit selbstgeschriebenen Gedichten, besonders Wagemutige rezitieren lauthals nicht nur ihre Trauer, sondern auch ihre Sorgen um die politische Zukunft.

Demonstranten rezitieren Gedichte (April 1976). In diesem berühmten Bild der Fotografin Luo Xiaoyun ist der bekannte Opernregisseur Li Tiehua (李铁华) zu sehen. Er wurde wenig später verhaftet. Als erstmals offizielle positive Darstellungen der Tiananmen-Proteste erschienen, wurde er auf dem Foto noch als "Stahlarbeiter" bezeichnet. (aus "The Tiananmen Poems", herausgegeben und übersetzt von Xiao Lan, Peking 1979)

"China ist nicht mehr das China von früher,
auch das Volk ist nicht mehr in Dummheit befangen.
 Die Feudalgesellschaft des Qin Shihuang ist endgültig vorüber.
"
 (Qin Shihuang, der "erste Kaiser der Qin-Dynastie/秦始皇" im 3. Jh. v. Chr., war für große Leistungen, aber auch despotische Brutalität bekannt. Mao hat ihn wiederholt gelobt.)

"Ein glänzender Stern ist vom Himmel gefallen, das erfüllt uns mit Trauer.
Aber eine schön geschminkte Kaiserin will in den Himmel hinauf und den leeren Platz einnehmen.
Alleine wagt sie es nie, ihr Gefolge soll mit hinauf.
Sie denken nur daran hochzukommen, aber das Volk lassen sie unten liegen.
"
(Anspielung auf Mao-Gattin Jiang Qing und die Gruppe, die man später "Viererbande" nennen wird.)

"Wir sind für Zhou und nicht für Franco,
für Freiheit und Demokratie, nicht für Faschismus,
wir wollen keine Scheiß-Kaiserin
."

"In meiner Trauer höre ich Dämonen schreien,
Wölfe und Schakale lachen, doch ich weine,
noch fallen Tränen für den toten Helden,
erhobnen Hauptes zück ich schon das Schwert.
"
(s. rechte Seite; der Autor, der wegen des "konterrevolutionären Inhalts" des Gedichts einige Monate inhaftiert war, wurde später als der Mittelschüler Wang Juntao identifiziert. Er wurde zu einem der führenden Aktivisten des "Pekinger Frühlings" und der Studentenbewegung von 1989.)

Behörden greifen ein

Einsatz der Polizei und "Volksmiliz" auf dem Tiananmen-Platz (April 1976)

Obwohl die "Trauer" um Zhou Enlai von Parteifunktionären gelenkt und organisiert ist, geraten die Kundgebungen außer Kontrolle. Vor allem dass viele Teilnehmer in historischen Anspielungen dabei den "Despotismus" und die autoritären Parteifunktionäre im Umfeld Maos kritisieren, missfällt der Führung. In der Nacht vom 4. zum 5. April entfernen Sicherheitskräfte Parolen und Kränze rund um das "Denkmal der Volkshelden". Als am Morgen des 5. April wieder an die 100.000 Menschen in langen Trauerzügen auf den Platz strömen und den gesäuberten Platz wahrnehmen, äußern viele offenes Missfallen gegen das Vorgehen der Behörden. Einige umliegende Regierungsgebäude werden gestürmt, es kommt zu gewalttätigen Konfrontationen. Arbeitermilizen werden gegen die Menge eingesetzt, die sich im Laufe des Tages zerstreut. Ein harter Kern wird verhaftet, es gibt offenbar auch Tote und Verletzte, doch bis heute kennt man nicht alle Einzelheiten. Die Bewegung wird gewaltsam niedergeschlagen.