Die Mauer der Demokratie in Shanghai (März 1979)

Shanghai hatte - so wie etliche andere Großstädte in China - seine eigene Version der Demokratiemauer. Sie befand sich beim "Volkspark" in der näher der Huaihai Middle Road. Die folgenden Schwarzweißfotos von Wandzeitungen in Shanghai wurden vom französischen Sinologen Alain Peyraube zur Verfügung gestellt. Er war im März 1979 in Shanghai.

"Liebe 'Gebildete Jugend' aus Shanghai in Xinjiang:"

"Nachrichten der Beschwerdeführer in Kürze (Nr. 1)"

"Offener Brief an den Vorsitzenden Hua Guofeng" (21. März 1979)

... von einem "Vertreter der Beschwerdeführer aus Shanghai, der zu früh verheiratet wurde", und jetzt in die Stadt zurück will. Er sei sozusagen in die Falle getappt, sei der Parteipropaganda gefolgt, die besagte, man müsse die Unterschiede zwischen Stadt und Land verringern, die Jugendlichen aus der Stadt wurden auch angehalten, auf den Dörfern einen Ehepartner zu finden. Nun sitze er im Dorf fest, die Vorteile des städtischen Lebens (z.B. um einen Studienplatz, eine Arbeitsstelle oder auch gute Gesundheitsversorgung zu erhalten) seien mit der Heirat verloren gegangen, selbst wenn er bereit wäre, getrennt vom Ehepartner zu leben. "Warum habt ihr gleich heiraten müssen", sagt man ihm. Er gelte nun als "Dorfbewohner", ohne Recht nach Shanghai zurückzukehren. Nicht einmal die Kinder hätten dieses Recht. Seine Forderung: Es müsse doch einen Weg zurück nach Shanghai geben.

"Ein Brief an den Genossen Deng Xiaoping" (24. März 1979)

Der offene Brief stammt vom gleichen "zu früh verheirateten" Autor, einem der "gebildeten Jugendlichen", wie man damals zu den in den 1960er-Jahren auf Maos Geheiß in entlegene Gebiete verschickter Mittelschülern sagte. Er beklagt sich nun über die harschen Lebensbedingungen auf dem Land und wiederholt, was er schon an Parteichef Hua Guofeng geschrieben hat.

"Was mit mir passiert ist - als ich dachte, jeder sei gleich vor dem Gesetz" (23. März 1979)

In dieser Wandzeitung beschuldigt der Fabrikarbeiter Wang Shilong drei Polizisten, ihn und andere gewöhnliche Bürger zu schikanieren. Beamte müssten "Diener des Volkes" sein, die Bevölkerung sollte der "Herr" sein, doch in der Realität sei es umgekehrt. Er selbst habe keine "Hintertür", durch die er es sich richten kann.

"Bitte zwei Wochen hängen lassen" - solche und ähnliche Anmerkungen standen oft bei den Wandzeitungen. Aus Platzgründen klebten die Autoren ihre neuen Zeitungen gerne über die von anderen, die dadurch oft nur einige Tage oder Stunden zu lesen waren. So gesehen litt die neue Meinungsfreiheit manchmal unter der Anarchie der Veröffentlichungen.

"Liebeslied" + "Zeitung aus dem tiefen Teich" ("Tan Bao")

Das "Liebeslied" ist eine Ode an Demokratie und Wissenschaft und an die von den Reformern versprochenen "Vier Modernisierungen" (in Industrie, Landwirtschaft, Militärwesen und Wissenschaft). Dafür "muss ich meine Jugend opfern - Mama, mach Dir keine Sorgen".

Die "Tan Bao" macht eine etwas kryptische Ankündigung für eine Diskussion am Mittwochabend, um 7 Uhr 40, zum Thema "Ein starkes Volk und ein schwacher Staat" - "bitte kommen Sie".   

"Bekanntmachung der Demokratie-Diskussionsgruppe, 22. März 1979"

Der Parteihistoriker Cheng Zhongyuan beschrieb diese Oppositionsgruppe später so: "Einige Mitglieder beschimpften den Vorsitzenden Mao als 'Hitler, der schlimmer als Hitler' ist, ... sie trommelten, 'die Diktatur des Proletariats ist die Quelle allen Übels', und sie verlangten 'entschlossene und nachhaltige Kritik an der Kommunistischen Partei Chinas'. Sie verkündeten, dass sie den Kapitalismus für besser hielten als den Sozialismus, ... und manche kontaktierten sogar heimlich Tschiang Kaischeks Spionage-Organisation und planten Sabotageaktionen." (in "Dramatische Jahre: China 1976-1981", Peking 2008, auf chinesisch, S. 294)

Teilweise verdecktes Fragment einer Wandzeitung der "Demokratie-Diskussionsgruppe" in Shanghai

Wandzeitungs-Fragmente